Nicht zurück
Ein typisches Beispiel für die Text-Bild-Kompositionen aus Träumen im Steilhang: Eine zusammenhängend lesbare Geschichte, deren Handlung sich von der Renaissance bis in die Zukunft erstreckt, bildet auf visueller Ebene ein Muster, das entfernt an eine Pyramide erinnern kann: Symbol für die menschliche Kultur, aber auch für den Auf- und Abstieg der verschiedensten Zivilisationen vom alten Ägypten bis nach Südamerika. „Nicht zurück“ besteht aus 275 präzise aneinandergefügten Textfeldern.
Leseversion:
1503. Aber Vater, wie könnt Ihr nur so die Augen verschließen? All die Ideen, die aus dem Lande Italien zu uns kommen, all die Herrlichkeiten der alten Marmortorsi, die Proportionen und Winkelmaße, welche ihre Anmut und Schönheit enthüllen! Vergesst auch nicht die großen Entdeckungsfahrten, nach Indien und weit darüber hinaus. Wollt Ihr nicht wissen, was jenseits unsres Verstandes liegt?
1525. Aber Vater, Ästhetik schön und gut, doch bringen die Ideen, welche Euch so viel bedeuten, nicht zwangsläufig auch jene der Freiheit hervor? Wie könnt Ihr für die weite Welt schwärmen und zugleich die aufständischen Bauern Sünder nennen?
1546. Gleichwohl, verehrter Vater, muss zur Freiheit auch jene des Glaubens zählen. Was immer das Konzil beschließen wird, –
1570 –, es zeigt mir lediglich, wie falsch wir daran tun, immerzu die alten Griechen zu kopieren. Ist es uns nicht gemäßer, die überkommenen Ordnungssysteme aufzubrechen, Säulen und Marmorbildnisse in die Länge zu ziehen und den Blick zu irritieren, auf dass die neuen Formen gleichsam auch neue Gedanken anregen?
1593. Zumal Euer Luther, geschätzter Herr Vater, auch Calvin auf den Plan gerufen hat. Wie könnt Ihr von Ästhetik sprechen, wenn Ihr zugleich einer Lehre huldigt, welche auf Arbeit ohne Unterlass und der Anhäufung von Mammon gründet? Ich bitte Euch, beginnt zu denken!
1618. Nein! Es genügt einfach nicht! Wir bekommen Krieg und Ihr wollt es allein auf den Glauben zurückführen. Macht, das ist es, was die Heere aufeinandertreibt, Macht und der unselige Wunsch, sie zu erlangen! Wie viele Jahre, Jahrhunderte gar müssten verstreichen, ehe Ihr endlich klarer seht?
1646. Beinah dreißig Jahre, Vater. So lange schon herrscht Auflösung, fließen Ströme aus Pest und Raserei durch unsre verheerten Dörfer. Was nützt ein klarer Blick? Was helfen noch so umfassende Einsichten in die Beweggründe der Kriegsparteien, wenn wir nicht den Griffel in die Hand nehmen und unsren Kindeskindern schildern, was uns hienieden widerfährt? Versteht mich oder lasst es, doch ich gedenke, aus den purpurnen Strömen Worte zu fischen, wie noch nie sie ausgesprochen wurden, um so der Menschheit Würde zu bewahren!
1665. Doch ich will weiter gehen. Seit frühester Kindheit höre ich von Euch, dass nichts von Bestand sei, und gewisslich habt Ihr recht. Dennoch, nein, gerade deshalb will ich Monumente schaffen, die den Blick auf Höheres lenken und –
1690 – Ihr seid daran gescheitert. Ich bedaure sehr, Euch das so unumwunden sagen zu müssen, doch Ihr seid wesentlich zu klein geblieben. Ein Kirchenbau, der die Engel vom Himmel herabholen will, sollte aufbieten, was immer Malerei und Bildhauerei, Architektur und Orgelbau uns an Mitteln und Möglichkeiten schenken.
1714. Ach, Vater! Ihr sinniert von überwältigenden Harmonien und seid nicht beschämt, wenn im Namen der römischen Kirche Weiber als Hexen verbrannt werden?
1741. Die Menschheit ist zu Größerem berufen, als halbherzige Kirchenkritik zu üben. Die Vernunft sei unsre Kirche!
1774. Genie!
1792. Die Revolution!
1810. Doch erklärt mir, wie könnt Ihr Napoleon verehren, nur weil er Kind der Revolution gewesen ist?
1830. Dampfschiffe und Eisenbahnen, merkt Euch meine Worte, die werden wahrlich die Welt revolutionieren.
1849. Doch auch nur dann, wenn die Eisenbahn nicht lediglich von Nürnberg nach Hof wackelt. Kämpfen wir für ein vereinigtes deutsches Vaterland!
1872. Vater, wenn ich das nur höre! Was soll mir dies im Krieg geborne Kaiserreich? Sieben Franzosen habe ich für das einige Deutschland getötet! Und das sind nur die, von denen ich weiß. An der Front lässt sich schwerlich jede Wahrheit überprüfen. Und? War es das wert? Sollen wir nun stolz auf uns sein?
1896. Die neuen Ideen aus Frankreich. Gemälde mit dick aufgetragener Farbe, die sich von den dargestellten Dingen immer weiter freimacht und stolz ihre eigenen Rechte fordert. Seit ich ein kleines Mädchen war, höre ich nun die Litanei von Frieden und Brüderlichkeit. Aber ist es nicht an der Zeit, auch an die Schwesterlichkeit zu denken? Wie lange sollen wir noch auf unser Wahlrecht warten? Die Menschheit schreibt Symphonien, welche die Engel zum Weinen bringen, und gesteht mir weniger Freiheit zu als der Farbe in einem französischen Bild!
1918. Und auch du hättest für sie gestimmt, Mutter. Sei wenigstens ehrlich! Alle haben die Kriegskredite bewilligt, alle Parteien im Reichstag. Und wenn ich auch eine Zeit lang dafür war, ich blutjunger Kerl, dann doch nur, weil selbst du dich hast hinreißen lassen! Wie konntest du mich so belügen, nachdem Großvater sich ein Leben lang für den Frieden eingesetzt hat? Also ich für meinen Teil kann dir nur eines sagen: dass ich in seine Fußstapfen treten werde, nicht in deine. Wir müssen jetzt den historischen Umbruch nutzen, um die Würde der Menschheit zu wahren und uns entscheidend voranzubringen. Ich werde Artikel schreiben, die den Leuten ihre Kriegshetze ein für alle Mal –
1945 – weitertreiben! Wie konntest du nur daran glauben, dass deine billigen Zeitungskommentare den Umschwung bringen? Wir hätten es gewiss noch rechtzeitig aus dem Land geschafft, wenn du nicht so vermessen gewesen wärst! Ich weiß einfach nicht, wie ich dir das verzeihen soll. Plakate und Flugblätter – ein Witz! Wir könnten genau jetzt in Südamerika liegen und uns die Sonne ins Gesicht scheinen lassen; stattdessen bin ich gezeichnet für alle Zeiten! Sollte es hier je wieder so eine Art Politik geben, werde ich versuchen, ein Amt zu bekommen. Wenn etwas in Zukunft die Apokalypse verhindern kann, dann ist es die maximal mögliche Koalition aus demokratischen Parteien, Kultur und –
1969 – das ganze Zeug ist ja alles recht, wenn auch nicht viel mehr als eine Floskelsammlung. Aber jetzt mal ernsthaft: Ist es dir nur einen Tag lang nicht um dich persönlich gegangen? Millionen Menschen sind ermordet worden, aber davon redet ja keiner! Richte dich nur ein in deiner bürgerlichen Scheinmoral! Ich für meinen Teil bin mir immer noch nicht sicher, ob du nicht mit Freuden mitgemacht hättest, wenn du nicht so ein feiger Hund gewesen wärst. Und genau das ist es doch, was wir den Spießern jedes Wochenende im Theater sagen. Zu einer funktionierenden Kultur gehört es auch, die eigene Scheiße umzurühren und zu erkennen, dass man von Verbrechern und Heuchlern abstammt!
1990. Mensch, Papa, bist du immer noch so? Du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass wir mit zwei Systemen besser gefahren wären. Die Kunst hat sich gegen alle Widerstände zu einem Maximum an Freiheit entwickelt; ich kann in meinen Performances tun und lassen, was immer mir gerade einfällt, und da kommst du mir mit –
2015 – marktkonformem Schreiben?? Mensch, Kind, was soll das überhaupt sein? Du sollst vom Geld diktiert kriegen, wie du deine Romane anlegst? Und hältst dich am Ende noch dran! Verdammt nochmal, die Kunst hat sich doch nicht gegen alle Widerstände ein Maximum an Freiheit erkämpft, nur um sich dann hinterher von Verlagsfritzen und dem Internet sagen zu lassen, –
2037 – dass du nur noch durch deine Virtual Reality rasen willst! Ach, Junge, ich erwarte doch überhaupt nicht, dass du etwas schreibst oder eigene virtuelle Räume schaffst oder, was weiß ich, in irgendeiner Weise zur Welt beiträgst, aber jeden Tag nur irgendwelche 3D-Typen umnieten, das kann’s doch nicht sein!
2061. Ach, Kind! Wenn du wenigstens von Zeit zu Zeit ein paar Typen wegballern würdest. Der Cyberraum ist nicht dazu da, um ständig nur an die Wand zu starren! Kind? Jetzt sag doch was!!!!!